Vorgehen bei der Fallaufnahme ( § 83 - 99 ORG. VI)
Vorbemerkung
Die Aufnahme eines Krankheitsbefundes in der Homöopathie bedeutet Beobachtung, Befragung und Auswertung. Ein Symptom ist jede wahrnehmbare Abweichung in Funktion und Struktur des Organismus von seinem gesunden Zustand. Die Gesamtheit der Symptome repräsentiert das durchschnittliche Krankheitsbild ("common symptoms" nach Kent). Ein individuell charakteristisches Symptom dagegen ist jede wahrnehmbare Abweichung von der durchschnittlichen Symptomatologie. Die Gesamtheit der charakteristischen Symptome repräsentiert das individuelle Krankheitsbild. Das Hauptziel der Anamnese in der modernen Medizin ist die Erfassung des durchschnittlichen Krankheitsbildes. Es ist für die Zwecke der Krankheitsdiagnose von Bedeutung. Das Durchschnittsymptom ist Ausdruck einer Organstörung und somit Hinweis auf eine spezifische Erkrankung. In der Realität gibt es aber keinen Durchschnitt, der "Durchschnitt" ist immer eine Abstraktion. In Wirklichkeit existieren auch keine isolierten Organe oder Funktionen; tatsächlich existiert in der Realität nur ein in seiner Gesamtheit reagierender Organismus, und seine Reaktionen bilden in einer Krankheit die Gesamtheit der Symptome. Individualität und Ganzheit sind Zeichen der Realität. In der Homöopathie ist das individuelle Krankheitsbild überwiegend wahlanzeigend für die Auffindung des Similes (IV ORG. § 153 "...sind die auffallenderen, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles besonders und fast einzig fest in´s Auge zu fassen..."). Die Fallaufnahme in der Homöopathie ergibt, da sie das kranke Individuum und nicht den Krankheitsnamen berücksichtigt und die Gesamtheit der Symptome eines individuellen Organismus´ und nicht isoliert erkrankte Organe in Betracht zieht, eine weitmöglichste Annäherung an die Realität von Leben und Krankheit. (IV ORG. § 18 "... daß der Inbegriff aller, in jedem einzelnen Krankheitsfalle wahrgenommenen Symptome und Umstände die einzige Indication, die einzige Hinweisung auf ein zu wählendes Heilmittel sei"). Aufgabe des Homöopathen ist es bei der Fallufnahme, vom Rohmaterial aller Symptome, die durch Beobachtung, Befragung und Untersuchungen erhalten wurden, die charakteristischen Symptomengesamtheit als Bild eines kranken Individuums zu formen, um es mit der Wirkung der Arzneien auf Gesunde zu vergleichen. (IV ORG. § 19 "Indem nun die Krankheiten nichts als Befindens-Veränderungen des Gesunden sind, die sich durch Krankheits-Zeichen ausdrücken, und die Heilung ebenfalls nur durch Befindensveränderung des Kranken in den gesunden Zustand möglich ist, so sieht man leicht, daß die Arzneien auf keine Weise Krankheiten würden heilen können, wenn sie nicht die Kraft besäßen, das auf Gefühlen und Tätigkeiten beruhende Menschenbefinden umzustimmen, ja daß einzig auf dieser Kraft, Menschenbefinden umzuändern, ihre Heilkraft beruhen müsse." ) Entsprechend des Ÿhnlichkeitsgesetzes soll durch die Anwendung der passendsten Arznei Krankheit a priori geheilt werden. (IV ORG. § 17 "Da nun jedesmal in der Heilung, durch Hinwegnahme des ganzen Inbegriffs der wahrnehmbaren Zeichen und Zufällen der Krankheit, zugleich die ihr zum Grunde liegende, innere Veränderung der Lebenskraft -also das Total der Krankheit- gehoben wird, so folgt, daß der Heilkünstler bloß den Inbegriff der Symptome hinwegzunehmen hat, um mit ihm zugleich die innere Veränderung, das ist, die krankhafte Verstimmung des Lebensprinzips - also das Total der Krankheit-, die Krankheit selbst, aufzuheben und zu vernichten. ...") Beobachtung Die homöopathische Fallaufnahme beginnt bei der Beobachtung des Patienten. Zeichen und Symptome, die sich beobachten lassen, haben den Vorteil, daß sie durch die Sprachbarriere zwischen Patient und Homöopath nicht beeinflußt werden und somit relativ unverfälscht sind. Die Beobachtung beginnt während des ersten Kontakts zwischen Patient und Homöopath. Auftreten und Benehmen des Patienten, Körperbau, Haltung, Physiognomie, Gestik, Sprache, Stimme, Geruch, Beschaffenheit der Haut, Kleidung, Zustand des Krankenzimmers, Lage im Bett, Temperaturempfinden etc. geben Aufschluß über die Individualität des Patienten. Unsere Materia Medica ist voll von Symptomen wie "der lange dünne Typ", "die schlaffe oder straffe Faser" etc., die sich beim kranken Menschen widerspiegeln und die wir durch bloße Beobachtung erkennen können. Es ist wichtig, ob ein Mensch blond oder brünett ist oder ob die Haut Akne oder Leberflecke aufweist. Ob sein Gesicht Trauer oder Freude ausstrahlt, kann entscheidender für die Mittelwahl sein, als wenn er versucht, uns glaubhaft zu versichern, daß es ihm gutgeht. Solche Hinweise, die durch stille Beobachtung gesammelt werden, geben dem Homöopathen häufig unmittelbar den Schlüssel für die Verordnung eines bestimmten Arzneimittels, oder erleichtern ihm später zumindest die Auswertung der nachfolgenden Befragung. Befragung Die klassische Form der Befragung besteht im Zuhören! Während des Spontanberichts sollte der Homöopath den Patienten nicht unterbrechen und sämtliche Angaben wortgetreu mitschreiben. Nachdem der Patient seine Darstellung beendet hat, empfiehlt es sich weiterhin zu schweigen, weil der Patient häufig den Faden von selbst erneut aufgreift, um seine Darstellung zu präzisieren. Fragen wie "Was sonst noch?", "Und, Weiter!" oder "Was können Sie sonst noch dazu sagen?" etc. sollen ihn dann ermutigen, seinen Spontanbericht zu vervollständigen. Hat der Patient seine Geschichte beendet, empfiehlt es sich, präzisierende Fragen zu stellen, wie z.B.: "Können Sie diesen Punkt näher erläutern?", "Können wir nochmal auf diese Sache zurückkommen? etc". Erst dann sollte man versuchen, vorsichtig eine Präzisierung des Vorangestellten zu erreichen, indem man nach genaueren Angaben und hierbei insbesondere nach Modalitäten forscht. Hierbei ist von entscheidender Bedeutung , daß Suggestivfragen vermieden werden! Sollte der Patient bestimmte Fragen nicht beantworten können, ist es geschickter, diese Frage später noch einmal in einer anderen Formulierung zu wiederholen, als auf eine Antwort zu drängen. Unklarheiten bezüglich der Modalitäten etc. sollten experimentell abgeklärt werden. Nur die Art des Zuhörens und des Fragens ermöglicht es dem Homöopathen, ein möglichst unverfälschtes Bild des Kranken zu erhalten. Sogenannte Leitfragen, Fragen, die auf eine bestimmte Arznei hindeuten, sind grundsätzlich zu vermeiden, da sie der Symptomenreihe immer eine Prägung geben, die nicht der Individualität des Falles entspricht. Häufig sind sie allerdings aus unterschiedlichen Gründen unvermeidbar. Wichtig ist, daß der Homöopath weiß, daß die oben beschriebene indirekte Methode ein genaueres Abbild der Realität liefern wird als die direkte Methode und ihr deshalb vorzuziehen ist. |
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